Aus „Bildung aktuell“
Zeitschrift des Philologen-Verbandes NW
im Nordrhein-Westfälischen Lehrerverband (NRWL),
September 2005:
Professor
Rainer Dollase, Erziehungswissenschaftler an der Universität Bielefeld:
Naive
Reformmentalität als Wegweiser in die Dekadenz
Wir leben, was die Qualität des Unterrichts anbelangt, im Würgegriff des
Marketing. Eine zufällige Auswahl aktueller Schlagwortkonzepte zur Qualität des
Unterrichts: Methodentraining, Qualitätsmanagement, Prozessorientierung, der
Lehrer als Organisator selbstgesteuerter Lernprozesse, Steuerungsgruppen,
Zielvereinbarungen. Nicht die tatsächliche Qualität ist wichtig, sondern der
Eindruck von Qualität. Und der wird durch Begriffe hergestellt. Was gut klingt,
ist gut. Alt ist schlecht – neu ist gut. Wirklich?
Von allen guten Geistern der Versuchsplanung verlassen, werden Produkte in den
Markt gedrückt, die das Papier nicht wert sind, auf dem die Fortbildung dazu
angekündigt wird. So wird etwa aktuell eine Rechtschreibwerkstatt für
Schulanfänger von der Schuladministration wie ein Illustriertenabo von Schultür
zu Schultür angedient, das kürzlich bei einer längsschnittlichen
Vergleichsstudie noch schlechter abgeschnitten hat als die Kontrollgruppe
(Instruktion: „Machen Sie, was Sie wollen...“)- Sieger wurde ein Fibel-Programm
ohne Schnickschnack und ohne Experimente. Der Reformeuphorie wurde der
Sachverstand geopfert – nahezu alle modernen Schlagwortkonzepte sind empirisch
nicht getestet worden. Oder einer so wachsweichen, also qualitativ-
diskursiven, dialogischen Evaluation unterzogen worden, dass das Ergebnis
nichtssagend ist.
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Der vollständige Artikel erschien inzwischen auch bei „Bildung real“, Ausgabe 5 – 2005, Presseorgan des Realschullehrerverbandes NRW.
Zu Elternbrief
Nr. 2
Gießener Professor testet Methode,
Kindern das Lesen und Schreiben beizubringen / Verquickung mit den Geschäften
der Ehefrau
VON PETER HANACK (FRANKFURT)
Das Ergebnis schien klar. Unter den Kindern, die mit der Fibel
Lollipop das Lesen und Schreiben gelernt hatten, waren zum Ende der 2. Klasse
nur fünf Prozent schwach in der Rechtschreibung. In den anderen Klassen, in
denen die Methode "Rechtschreibwerkstatt" des Diplom-Psychologen Norbert
Sommer-Stumpenhorst getestet wurde, lag die Quote der rechtschreibschwachen
Kinder bei 23 Prozent - fast fünf mal so hoch. Trotz des eindeutigen
Ergebnisses, das die Studie der Universität Marburg unter Leitung des
renommierten Legasthenie-Experten Gerd Schulte-Körne brachte, lässt das
hessische Kultusministerium die Rechtschreibwerkstatt weiterhin testen. An der
Universität Gießen untersucht eine Arbeitsgruppe um Professor Ulrich Glowalla,
wie gut sich Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten durch Sommer-Stumpenhorsts
Methode verhindern lassen.
An der Objektivität jener, die die Gießener Studie erstellen, gibt
es allerdings Zweifel. Professor Glowallas Ehefrau ist Geschäftsführerin der
Lerndesign GmbH, die Material für die "Rechtschreibwerkstatt" herstellt
und dieses über den Collishop von Diplom-Psychologe Norbert-Stumpenhorst im
Internet vertreibt.
Ein an der Studie beteiligter wissenschaftlicher
Mitarbeiter von Professor Glowalla, Sascha G., arbeitet außerdem für die
Lerndesign GmbH und das Internet-Forum der "Rechtschreibwerkstatt".
Bereits zu Beginn der Studie zeigt sich Professor Glowalla von der hohen
Qualität der "Rechtschreibwerkstatt" überzeugt: "Ein Kind, das
das Programm durchgearbeitet hat, wird keine Probleme mehr bei der
Rechtschreibung haben", wird er in einem Bericht des Gießener Anzeiger
vom 7. September 2004 zitiert. In Gießen nehmen fast 100 Lehrer an 22 Schulen
an dem Projekt teil, in Marburg waren es lediglich 15 Klassen.
Auf Nachfrage der FR geht das Kultusministerium auf Distanz. Die Untersuchung
in Gießen erfolge nicht im Auftrag des Ministeriums, auch die personellen
Verquickungen seien in Wiesbaden nicht bekannt. Fragen, wie das Ministerium
diese Verquickungen einschätze und ob diese möglicherweise Einfluss auf die
Ergebnisse der Studie haben könnten, beantwortet eine Sprecherin des
Ministeriums mit dem Satz, eine solche Studie sei vom Ministerium nicht in
Auftrag gegeben worden - obwohl auf der Internetseite der Universität Gießen
das Ministerium als Auftraggeber benannt wird.
Professor Glowalla sagt in einem Telefongespräch mit der FR,
es habe über die Untersuchung "direkte Gespräche" mit dem
Kultusministerium gegeben. Projektnehmer sei das Staatliche Schulamt für den
Landkreis Gießen und den Vogelsbergkreis. Zwischen Glowallas Forschungsgruppe
und dem Staatlichen Schulamt gebe es darüber eine Kooperationsvereinbarung. Der
Leiter dieses Schulamts, Heinz Kipp, verweigert jede Auskunft zum Thema und
verweist auf das Kultusministerium.
Die Ergebnisse der Marburger Untersuchung, die Lollipop im Gegensatz zur
Rechtschreibwerkstatt als bessere Methode identifiziert hat, sind bis heute
nicht veröffentlicht und lediglich einem kleinen Kreis von unmittelbar
Beteiligten bekannt. Aus dem Kultusministerium heißt es dazu, die Marburger
Studie sei noch nicht abgeschlossen, der Aussagewert der bisherigen Ergebnisse
für eine Veröffentlichung zu gering. Erste Trends, heißt es, ließen erkennen,
dass Lollipop "zum jetzigen Zeitpunkt das zielführendere Konzept"
darstelle.
Der Leiter der Marburger Forschergruppe, Gerd Schulte-Körne, hält die
Zwischenergebnisse dagegen für eindeutig und durchaus belastbar. "Es ist
unstrittig, dass die Rechtschreibwerkstatt nicht so effizient ist wie
Lollipop", sagt er - obwohl Sommer-Stumpenhorsts
"Rechtschreibwerkstatt" wesentlich materialintensiver und damit für
die Schulen auch teurer als viele andere Methoden sei. Das solle, fordert er,
auch "politische Folgen" haben.
Trotz mehrmaliger Anfrage gibt es von Seiten des Ministeriums und des
Staatlichen Schulamts keine Auskunft darüber, wann und durch wen der Auftrag
zur "Rechtschreibwerkstatt" an Glowallas Forschungsgruppe gegeben
worden ist. Auch auf Fragen zu möglichen personellen Konsequenzen gibt es aus
Wiesbaden und Gießen keine Antwort.