Betrifft: Flexible Schuleingangsphase 

 

 

Der folgende Artikel des Herausgebers dieser Homepage erschien in der Lehrerzeitschrift „Schule heute“, Nr.5, 2005.

Vorbemerkung:

Das Konzept des jahrgangsübergreifenden Unterrichts  (anderswo auch als flexible Schuleingangsphase, Flex, JÜL benannt) geht zurück auf die Ideen des deutschen Kultpädagogen Peter Petersen, der als überzeugter Antidemokrat und Rassist im Nazi-Reich unter den gleichgesinnten Erziehungswissenschaftlern und Lehrern höchstes Ansehen genoss. Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts finden sie in der Schrift 'Der kleine Jenaplan' besonders bei den Vertretern des reformpädagogischen main-stream wieder aufgeregte Begeisterung. (Mehr zu Peter Petersen und dessen 'Jena-Plan-Schule' unter >>>  http://jena-plan.grundschulservice.de/) Nach dem Modell der 'Jena-Plan-Schule' strebte Peter Petersen seinerzeit an, in ganz Deutschland seine 'Bauernschule' mit sog.  'Kameradschaftsunterricht' (klassenübergreifender Unterricht) zu etablieren. Heute gilt in Deutschland die 'Bauernschule' des Nationalsozialisten Peter Petersen wieder als richtungweisend für die Einführung einer 'modernen' Schule: mit klassenübergreifendem Unterricht, der flexiblen Schuleingangsphase, mit 'Flex'  bzw. 'JÜL'. 

Auch nach dem Regierungswechsel im Land NRW (in 2005) wird die Einrichtung der „flexiblen Schuleingangsphase“ an Grundschulen grundsätzlich weiter verfolgt, augenblicklich ist dies jedoch noch den Schulen freigestellt.

Mit der flexiblen Schuleingangsphase sollen zunächst die Klassen 1 und 2,  später auch die Klassen 3 und 4 zusammengelegt werden. Dies ist eine weitere Sparmaßnahme, vor der nicht genug gewarnt werden kann. Dass Deutschland für seine Grundschulen ohnehin nicht viel übrig hat, bestätigte erst kürzlich aufs Neue die OECD.

Übrigens: Unterrichtskonzepte wie z. B. die „Rechtschreibwerkstatt“ von Sommer-Stumpenhorst werden für die neue Schuleingangsphase für besonders brauchbar gehalten, daher wurde diese Methode auch von der Schulbürokratie - mit einem besonderen Bonus ausgestattet -  in die Schulen lanciert: Materialien, mit deren Hilfe sich SchülerInnen selbst etwas beibringen können sollen, sind eben billiger als LehrerInnen. 


Die neue Schuleingangsphase in NRW

- ein schulministerielles Experiment an und mit Grundschulkindern -

von Günter Jansen (2005)

„Die Grundschule soll noch besser werden.“ So eröffnet der NRW-Ministerialdirigent R. Christiani seine jüngste Publikation „Jahrgangsübergreifend unterrichten“ (Berlin 2005), wohlwissend, dass Deutschland nach der Grundschulstudie IGLU keinerlei Gründe zum Jubeln hatte und Nordrhein-Westfalen nach jahrzehntelanger moderner Schulpolitik bei den meisten Einzelergebnissen noch unter Bundesdurchschnitt lag. Und auch als im Oktober 2004 das Schulministerium frohlockte: „108 Grundschulen haben mit Beginn des Schuljahres 2004/05 erstmals jahrgangsübergreifende Klassen in der Schuleingangsphase gebildet.“, und daraus folgerte: „Dies zeigt, dass sich viele Schulen erfolgreich auf den Weg gemacht haben.“, musste man sich fragen, ob das wohl die Logik sei, mit der hierzulande Schulpolitik gestaltet wird. Schließlich erfasste der Erfahrungszeitraum bis dahin gerade erst einmal zwei Monate,  woran aber wurde denn da der Erfolg gemessen?

Dreißig Jahre nachdem es selbst in ländlichen Räumen keine jahrgangsübergreifenden Klassen mehr geben durfte, wird jetzt deren Wiedereinführung als neue pädagogische Idee präsentiert, wie z. B. bei R. Hinz/D. Sommerfeld: „Wir formulieren hier eine pädagogische Idee, die im Rahmen der veränderten Schuleingangsphase zunehmend an Popularität gewinnt, für die es aber noch keine ausreichenden Forschungsergebnisse gibt“ (Jahrgangsübergreifende Klassen. In: R. Christiani: Schuleingangsphase: neu gestalten. Berlin 2004). Dass es zur Durchführung einer Schulreform nicht einmal ausreichender Forschungsergebnisse bedarf, die eine Umsetzung begründen und absichern könnten, ist nicht neu. Ohne solide Erprobung mit Evaluationen über Jahre hinweg und ohne begleitende Longitudinalstudien, die zu validen Befunden hätten führen können, weist aber in besonderem Maße diese Reform alle Züge eines Experiments auf. Über Reformvorhaben dieser Art spöttelt denn auch der Erziehungswissenschaftler J. Oelkers , „dass ihre Erprobung paradoxerweise mit dem Ernstfall beginnt.“ So orientiert sich NRW an dem Brandenburger Modell der „Kleinen Grundschule“ (FLEX) mit jahrgangsübergreifendem Unterricht für alle Klassen. Wegen des Schülerrückgangs wurden in Brandenburg seinerzeit die Jahrgangsklassen zusammengelegt, man wollte Schulstandorte wohnortnah und kostenneutral erhalten. Um die Idee populär zu gestalten, wurde sie freilich bis in schwindelnde Höhen reformrhetorisch überhöht. Überzeugende Forschungsergebnisse sind von dort allerdings auch nicht zu erwarten, sie werden unbestritten von allen Seiten als „nicht vorhanden“ oder „unzureichend“ bezeichnet. R. Christiani vertritt in seinem neuen Buch (2005) kurioserweise gleich zwei Positionen: Er spricht von internationalen Vergleichsstudien, die s. E. die Einführung der neuen Schuleingangsphase dringend nahe legen, bilanziert aber kurz darauf: „Empirischen Untersuchungen über jahrgangsübergreifenden Unterricht zufolge fallen die Ergebnisse eher ernüchternd aus“ (ebd.). In der Tat gibt es nur ernüchternde globale Aussagen. R. Hinz und D. Sommerfeld berichten davon: “Einschlägige internationale Studien kommen gleichfalls zu der zentralen Aussage, dass sich die Leistungen in jahrgangshomogen und jahrgangsheterogen angelegten Klassen nicht voneinander unterscheiden“ (a.a.O.). Die Leistungen unterschiedlich geführter 1. und 2. Klassen werden allerdings nicht selten auch in suspekter Manier vieldeutig beschrieben: “Hierbei zeigte sich, dass die Rechen- und Rechtschreibleistungen der Kinder in den Modellklassen mit denen der Jahrgangsklassen ähnlich waren“ (R. Hinz/D. Sommerfeld). Sogar in ihrem Kernpunkt versagt die Reform: “Es bleibt ein nicht zu übersehender Anteil von schulschwachen Kindern, die trotz längerer Verweildauer in der FLEX aufgetretene schwache Leistungen in den Testergebnissen nicht verbessern können“ (ebd.). (Hier möge der geneigte Leser bitte inne halten, den Satz noch einmal lesen und dabei „trotz längerer Verweildauer in der FLEX“ durch „trotz Sitzenbleibens“ ersetzen!) Hamburger Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass in Integrationsklassen Rückstände kaum mehr aufzuholen waren und eine breite Leistungsstreuung erhalten blieb (W. Einsiedler: Unterricht in der Grundschule. In: K.S. Cortina et al.: Das Bildungswesen in der BRD. Reinbek 2003). Das soziale Lernen, das in jahrgangsübergreifenden Klassen besonders günstige Bedingungen vorfinden soll, wird bei Hinz/Sommerfeld „insgesamt als niedrig“ (a.a.O.) beschrieben. Wie andere schon konnten auch sie beobachten: In Erarbeitungsphasen und Freundschaftsbeziehungen suchen Kinder in der Regel gleichaltrige und ähnlich leistungsstarke Partner auf.  Im Übrigen weisen sie auf einen besonderen Konfliktherd hin: „Die für die Erstklässler weniger klar definierte Situation ist anfälliger für Unverträglichkeit, Spannung und Konflikte“ (a.a.O.).

Obschon es das Sitzenbleiben nach der 1. Klasse lange schon nicht mehr gibt, muss seine Abschaffung weiterhin als ein Argument für die Einführung der neuen Schuleingangsphase herhalten. In Wirklichkeit aber wird jetzt der Tatbestand des Sitzenbleibens in abgewandelter Form wieder eingeführt, und lernschwache Kinder entgehen einem wohl noch tiefer empfundenen Stigma nicht: Dann nämlich, wenn Mitschüler schon nach einem Jahr, die meisten der anderen nach zwei Jahren, schließlich sogar später Eingeschulte an ihnen vorbei in die dritte Klasse versetzt werden. Keine auch noch so charmant formulierte Sprachvorlage aus dem Ministerium wird den Kindern diese Kränkung nehmen können. In Finnland z. B. löst man das Problem aber nicht mit Advokatenkniffen, sondern mit individueller Förderung, die der Bezeichnung entspricht. In Klassen mit über 20 Kindern wird zusätzlich eine Assistentin eingesetzt. Lernschwache Kinder werden vorübergehend getrennt von der Klasse in Einzelunterricht oder in Kleingruppen (mit bis zu vier Schülern) von fest angestellten Speziallehrern/-lehrerinnen mit fundierten diagnostischen und therapeutischen Kompetenzen unterrichtet. Man weiß: Gerade schwächere Schüler/Schülerinnen und ich-schwache Kinder aus unterprivilegierten Familien können im Einzelunterricht oder in homogenen Kleingruppen mit der personalen Nähe eines Lehrers/einer Lehrerin besonders effektiv gefördert und nachhaltig aufgefangen werden. Finnische Lehrkräfte halten nichts vom reformpädagogisch geprägten main - stream und lehnen die ausgeklügelten Theorien über die Binnendifferenzierung ab, sie unterrichten fast ausnahmslos „konservativ“. Sie erreichen bei PISA Bestnoten, obschon die finnische Jahresunterrichtszeit unter OECD-Durchschnitt, ja noch unter deutschem Niveau liegt.

Das Konzept der flexiblen Schuleingangsphase setzt darauf, dass die Binnendifferenzierung mit ihren Selbstlernkonzepten es schon richten wird. So verspricht denn auch die Werbung der Lehr-/Lernmittelindustrie, dass alle Erstklässler ihre Lernprozesse „selbstinitiiert“ und „selbstverantwortet“ organisieren sowie „entdeckend“ und „selbststeuernd“ sich selbst das Lesen und Schreiben beibringen könnten, sie sogar in der Lage seien, auf eben diese Weise mit Hilfe von Materialien ihre Lerndefizite auszugleichen. In aller Eile werden derzeit LehrerInnen zu „Diagnosesachverständigen“ ausgebildet. Sie sollen befähigt werden, die Lernstände punktgenau zu diagnostizieren, um danach die - oft genug beklagenswert skurrilen - Arbeitsmittel passgenau einsetzen zu können. Indes haben neuere deutsche und Schweizer Forschungsergebnisse die Diskussion um den „modernen Unterricht“ wieder in Gang gesetzt. Der Didaktiker Hilbert Meyer bekennt in seiner jüngsten Veröffentlichung: „Ich muss auf meine alten Tage umlernen. Die Über- oder Unterlegenheit bestimmter Unterrichtskonzepte lässt sich zur Zeit empirisch nicht nachweisen“ (Was ist guter Unterricht? Berlin 2004).  Geradezu provokativ formuliert Herbert Gudjons die sich anbahnende Wende schon im Titel seines Buchs „Frontalunterricht–neu entdeckt“ (Bad Heilbrunn 2003). Bereits vor Jahren kamen die Harvard-Professorin J. Chall und R. Murnane /F. Levy in den USA zu dem Ergebnis, dass „produktives Unterrichten“ dem selbstorganisierten Lernen und allen anderen “progressiven Unterrichtsmethoden” weit überlegen ist. Auch bei uns ist belegt, dass lehrerzentrierter Unterricht Schüler mit schlechteren schulischen Voraussetzungen besser fördern kann. Lernpsychologen wie A. Krapp/B. Weidenman warnen vor dem wachsenden Schereneffekt als Folge offener Unterrichtsformen, die besonders bei Schülern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen zu Desorientierung und Überforderung führen können (Pädagogische Psychologie. Weinheim 2001). Arge Kritik übt der Erziehungswissenschaftler J. Oelkers an der eindimensional ausgerichteten Methodengläubigkeit mancher LehrerInnen: „Es ist ein grundlegender Irrtum anzunehmen, mit bestimmten Formen des Unterrichts seien alle Schüler gleich gut bedient, wobei Grundschullehrkräfte vielfach annehmen, die offenen Formen seien gegenüber den strukturierten die eigentlich geeigneten, weil sie »schülerbezogen« und »aktivierend« erscheinen“ (Wie man Schule entwickelt. Weinheim 2003). Wie sich unschwer aus den Ranglisten bei IGLU herauslesen lässt, sagt das Nominelle von Unterrichtsmethoden oder Unterrichtsmaterialien noch wenig über ihre tatsächlichen Qualitäten und Effekte aus. Wenn das so wäre, müsste die nordrhein – westfälische Grundschule ein Erfolgsmodell sein. So bilanzieren denn auch Ch. Klicpera/B. Gasteiger-Klicpera für den Schriftspracherwerb: “Wenn am Ende der 1. Klasse die Auswirkungen der beiden Unterrichtsarten auf den schulischen Fortschritt der Kinder bestimmt wurden, zeigte sich ein klarer Vorteil des traditionellen Unterrichts“ (Psychologie der Lese- und Schreibschwierigkeiten. Weinheim 1998). Derzeit wird in der Studie „Modellprojekt Schriftsprachmoderatoren“ ein besonders für die neue Schuleingangsphase empfohlenes Selbstlernkonzept für den Schriftspracherwerb untersucht. Für den, der die Zwischenergebnisse kennt, wird der Einsatz von Selbstlernkonzepten zur Gewissensfrage.

In den USA gilt seit 2001 das Gesetz „No Child Left Behind“, nach dem für den Unterricht nur noch solche Methoden und Materialien zugelassen sind, deren erfolgreicher Einsatz empirisch nachgewiesen ist. Hierzulande sind die weitaus meisten Unterrichtsmethoden und -materialien keinen nennenswerten Kontrollen unterworfen und weit davon entfernt, auch nur ansatzweise nach wissenschaftlichen Maßstäben überprüft worden zu  sein. Sie gelten schon dann als besonders tauglich, wenn jemand ihnen das Prädikat „erprobt“ oder „modern“ erteilt hat. Dürften Ärzte in dieser Manier agieren und ungeprüfte Medikamente sowie am Schreibtisch ausgedachte Behandlungsmethoden flächendeckend einsetzen, sprächen wir von einem Skandal. Kritiker, die auch die defizitäre räumliche und personelle Ausstattung der neu strukturierten Grundschule zu bedenken geben, werden abgefertigt. Dabei wollen LehrerInnen bei uns gar nicht einmal von finnischen Verhältnissen träumen: stationär disponibel dort für die Klassen Schulassistenten und Speziallehrer, für die ganze Schule Sozialarbeiter, Schulschwestern mit medizinischer Ausbildung, Logopäden und Psychologen. So lange bei uns wissenschaftsferne Konzepte und finanzstrategische Überlegungen, getarnt als Schulreformen, die wesentlichen Steuerelemente der Bildungspolitik sind, bleibt unser Land schulisches Entwicklungsland, und wir können froh sein, wenn wir den diesmal errungenen PISA – Rang auch weiterhin verteidigen könnten. PISA ist allerdings nicht so etwas wie ein sportlicher Wettbewerb. Die Studie spiegelt auch, mit welchem Grad von Verantwortung sich ein Land um die Lebensbiographien seiner Kinder sorgt. Ungewiss ausgehende schulische Experimente verbieten sich eigentlich von selbst.


 

 Siehe dazu auch:   

 Ist die marode Schule von heute mit Pädagogik aus der NS-Zeit  zu retten? Neu!

 

 >>>>> Elternbrief Nr.19 (September 2008)

 


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